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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783421056443
Sprache: Deutsch
Umfang: 315 S.
Format (T/L/B): 2.8 x 20.9 x 13.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

In den letzten Wochen des Wahlkampfs in einem der neuen Bundesländer dramatisiert sich die Situation für den aus dem Westen stammenden Spitzenpolitiker Hannes Müller. Als er mit seinem Adoptivsohn unterwegs ist, kommt es zu einer Konfrontation mit Jugendlichen. Müller ohrfeigt nach einer antisemitischen Provokation im Affekt den Wortführer. Er wird erkannt, und in der Folge führen Medien und Öffentlichkeit eine Hetzkampagne gegen ihn. Auch Müllers Ehe verändert sich, ohne daß er die Fäden in der Hand behält. Christine, die viele Jahre in Kairo gelebt hat, war ihm mit ihrem halbarabischen Sohn in die ostdeutsche Provinz gefolgt. Und nun spürt er, wie die Frau, die ihn fasziniert und die er liebt, ihm entrinnt.

Leseprobe

Das Tor knarrte seit letztem Sommer. Er sah hinter sich und entließ Schmitt und den Fahrer Rölke mit einem ungewissen Handzeichen. Durch die das fahle Abendlicht spiegelnden Fenster waren ihre Gesichter im Inneren des Wagens nicht zu erkennen. Er hielt neben einem dunkelbraunen Cabrio und den Containern inne, aus denen zwei feiste schwarze Plastiksäcke herausblähten, und starrte auf das frei stehende Einfamilienhaus aus den zwanziger Jahren mit den zwei Apfelbäumen im Vorgarten und einem verbeulten blauen Briefkasten am Zaun. Dieses Innehalten gehörte inzwischen zum Nachhausekommen wie das Knarren des schiefhängenden Gartentors. Weit und breit das einzige altersschwache und ungeölte Exemplar. Nicht, daß er sich darauf etwas einbildete, aber er mußte zugeben, daß er sofort auf andere Gedanken kam, hatte er erst einmal dieses Tor mit einem Ruck angehoben und geöffnet. Eine Nacktschnecke robbte quer über den Plattenweg zum Haus. Er nahm das schlüpfrige, karamelfarbige Eingeweidesäckchen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und warf es ins Gras zurück. Die Hand schloß sich unwillkürlich zur Faust. Hinter ihm schlugen nacheinander mehrere Kirchenglocken an. Er baute sich breitbeinig vor dem Rasen auf, drückte die Knie durch und atmete tief ein und aus. Das gehörte nicht mehr zu den Ritualen des Nachhausekommens, und als er die blaugrauen Wolkenstores über dem Nachbarhaus entdeckte und wie sie den Garten eindunkelten, fiel ihm auf, daß er sonst nie in diese Richtung sah und sich bis vor wenigen Sekunden in dem Glauben gewiegt hatte, es würde an diesem Maitag noch viele träge Stunden dauern, bevor der Abend anbrach. Er sah zerstreut auf die klebrige Handfläche. Eine Amsel flog aus den Holunderbüschen auf. Er hatte jetzt das Gesicht dieses Journalisten im Kopf, zusammengewachsene Augenbrauen und eine steile Falte darüber, wie ein Blitzableiter. Wie ihm dieser Typ vorhin, nach der Gründungsfeier, auf dem Herrenklo entgegengekommen war. Mit überkreuzten Armen und den Händen unter den Achseln, weil es angeblich keine Papierhandtücher gebe. 'Wurzener Tageblatt'. Das eignete sich bestimmt auch zum Händetrocknen. In der Regel vergaß er solche Leute, sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Es sei denn, es handelte sich um Journalisten wie diesen Steilfalte. Er erklärte sich den Fall damit, daß er zum Gründungsakt der Bundeskulturstiftung gesprochen und dem Mann danach plausibel zu machen versucht hatte, weshalb dieses Land eine Bundeskulturstiftung bitter nötig hatte. Die Leser vom 'Wurzener Tageblatt' sollten wissen, daß ohne ihn, Müller, diese Stiftung nie zustande gekommen wäre. Ein Grinsen flüchtete über sein Gesicht, als er den schwarzen Lederkoffer auf dem Rasen abstellte. Nachdem er den Schlüsselbund mehrere Male in der Jacketttasche hin- und hergewälzt hatte, zog er die leere Hand heraus und öffnete den Holzverschlag zum Fahrradschuppen links vom Haus. Durch den Schuppen konnte man in den hinteren Teil des Gartens gelangen. An der Seitenfront, unter dem müde hingestreckten Flügel einer das Haus längst riesenhaft überragenden Kiefer, wußte er eine Bierkiste. Die Kiste stand mit der Öffnung nach unten auf dem von braunen Nadeln übersäten Kiespfad. In diesem Winkel, zwischen Fliegen und Spinnweben, hatte er seit Monaten nicht mehr gesessen. Er zog sein Taschentuch hervor, wischte sich den Schleim der Schnecke von den Fingern und hatte plötzlich das Gefühl, sich heute weit von seiner Heimkehrroutine zu entfernen. Zu einer anderen Zeit, nach starken, kurzen Regengüssen, war er durch einen elsässischen Garten getigert, mit einem Einweckglas in der Linken, und hatte später für solche Schleimkameraden jeweils einen Pfennig bekommen. Er schlug den Kragen der Jacke hoch, obwohl es nicht kühl war, und lehnte sich gegen die Hauswand. Also gut. Der Auftritt in der Stiftung war nicht überzeugend gewesen. Schmitt traf natürlich kein Vorwurf. Die Rede war in Ordnung. Er war es gewohnt, Fehler bei sich zu suchen. Er war Leseprobe