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Letzter Vorhang

Roman

Erschienen am 05.05.2017
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783957491114
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 21.5 x 13.6 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Michael Schindhelm erzählt die Geschichte des Matthias Pollack, Chefdramaturg am Berliner Liebknecht-Theater, das nach 25 Jahren als das Nonplusultra des deutschen Theaters nun zur Beute eines kosmopolitischen Kulturmanagers werden soll. Was wie eine Allegorie auf die Gegenwart der Berliner Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz erscheint, wird mehr und mehr zur beklemmenden Einsicht in die Selbstentfremdung des Protagonisten. Pollack, Ende fünfzig, Sohn Ostberliner Intellektueller, gerade von seiner jungen Freundin verlassen, ist auf dem Weg zur 463. Vorstellung von Einer flog über das Kuckucksnest: Entstanden im Herbst 1989 als Abrechnung mit der Staatswillkür der DDR, dann transformiert in eine Attacke auf die Zumutungen des Kapitalismus, soll diese Inszenierung, die den Ruhm des Liebknecht begründet hat, heute in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters zum letzten Mal gespielt werden. Niemand kann vorhersehen, was an diesem Abend geschehen wird.

Autorenportrait

Michael Schindhelm, geboren 1960 in Eisenach, studierte Quantenchemie in Woronesch (Sowjetunion) und war zunächst Mitarbeiter am Zentralinstitut für physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Danach arbeitete er als Autor und Übersetzer. Er war Theaterleiter in Nordhausen, Gera, Altenburg und Basel, von 2005 bis 2007 Generaldirektor der Berliner Opernstiftung. Er ist heute als Schriftsteller, Dokumentarfilmer und Kulturforscher international tätig und lebt in Lugano und London.

Leseprobe

3 Die Bahn Richtung Friedrichstraße war losgefahren und so rüttelte nun das für unsere Hauptstadt ungewöhnlich gepflegte Regierungsviertel vorbei. In gut zweieinhalb Stunden würde die vierhundertdreiundsechzigste Vorstellung von Einer flog über das Kuckucksnest beginnen, einer Produktion, die im Herbst 1989 entstanden war und wie keine andere die revolutionäre Tugend jener Zeit beschworen hatte. Das war übrigens nicht meine Privatmeinung, sondern stand am Vortag - als Tipp zum Wochenende fast buchstäblich so in der Zeitung. Das Theater, unser Liebknecht-Theater, war damals das Glashaus gewesen. Ich einer von denen, die drin gesessen hatten. Und jetzt spielten wir dieses Stück im achtundzwanzigsten Jahr. Die Vorstellung war auch diesmal ausverkauft. Und darauf würde der letzte Vorhang folgen. Vor nicht einmal drei Jahren hatte ich dafür gesorgt, dass sie die Abendspielleitung von Kuckucksnest übernahm. Doch im letzten Herbst hatte ich zugelassen, dass sie diese Produktion gegen Malapartes Die Haut getauscht hatte, weil dort jemand krank geworden war. Gegen meinen Willen hatte ich das zugelassen. Sie war die weitaus bessere Assistentin gewesen als Leitterfeldt, der seitdem Kuckucksnest betreute. Hätte ich im letzten Herbst meinen Willen durchgesetzt, würde ich sie unweigerlich heute Abend im Theater sehen. Meine revolutionäre Tugend war mitnichten unerschöpflich. Im besten und im schlimmsten Fall sollte ich noch heute herausfinden, was sie mit ihrem orakelhaften Warte nicht auf mich gemeint hatte. Im besten Fall würde sie spätestens heute Nacht in der Solinger auftauchen und sich still neben mich legen. Wir würden über Oia reden. Über die Intimität im Glashaus. Eine konkrete Zukunft. Sie würde sich an meinen ausgezehrten, liebebedürftigen Körper klammern. Irgendwann würde das Knistern zurückkehren. Aber es gab einen viel wahrscheinlicheren Fall: Sie war zu Stölzli zurückgekehrt. Der schlimmstmögliche Fall, schoss es mir durch den Kopf, als ich gerade mein rechtes Ohr gegen die Fensterscheibe des Waggons drückte und die Augen geschlossen hielt. Stölzli! Oh, worauf ich mich dann gefasst machen musste! In zwei Stunden, noch vor der Vorstellung, würden wir uns ja über den Weg laufen. Er, in seiner verbindlichen Art, würde mich grüßen. Einen unbestimmten, gut gespielten Skrupel in der Visage. Ich hörte ihn bereits mit belegter Stimme sagen: Können wir später drüber reden? Ausgeschlossen war das beileibe nicht. Leute wie Stölzli kriegen emotional instabile Frauen mühelos herum. Sie war derzeit emotional instabil. Wegen des Mangels an Auseinandersetzung, meiner Versunkenheit, wegen der Zukunft. Immer leutselig, Merci hier und Merci da und Grüezi miteinand, wie die Schweizer halt so sind, wendete Stölzli virtuos seine Tricks an. Besonders das notorische Versteckspiel in der Anwendung des Hochdeutschen machte was her. Vor allem die Westdeutschen haben oft genug eine erotische Schwäche für den radebrechenden Ausländer bewiesen. Besonders im Showgeschäft. Sie war eine Westdeutsche. Er der Show-Affe. Wie Wilhelm Tell reden, aber wie Robert de Niro aussehen. Mir reichte er nur bis zum Schlüsselbein, aber für Frauen in einem bestimmten Zustand reichte er damit weit genug. Womöglich nun zum wiederholten Mal auch für sie. Im Kuckucksnest standen wir uns in einer Szene auf wenige Zentimeter gegenüber. Er McMurphy, ich Häuptling Bromden. Er quasselte irgendwelches Vierwaldstätterdeutsch auf mich ein, als hätte er Kieselsteine im Hals, ich ließ das schweigend über mich ergehen. Die Leute dachten immer, das sei Kunst. Dabei war es bei ihm Natur. Pure Schweizer Natur. Selbstredend hatte er so die besseren Karten. Es fiel ihm zu. Der Stölzli hatte sicher nie im Glashaus gesessen. Das würde er keine fünf Minuten durchstehen. Immer musste er antichambrieren, vor dem Publikum, vor den Frauen. Wäre er damals schon im Liebknecht gewesen, hätte er auch mit der Stasi antichambriert. Vielleicht hätte er sogar die Stasi rumgekriegt. Ein wenig Verständnis konnte ich demnach dafür aufbringen, dass sie einst, in ihren ersten Monaten an der aufregendsten Bühne der Stadt, wenn nicht des Landes, als blutjunge Regiehospitantin auf Stölzli reingefallen war. Ich verstand noch besser, dass das nicht ewig hielt, denn der Stölzli war für kein Mädchen eine Endstation. Stölzli war vielmehr permanent auf der Umlaufbahn. Seit Jahren vögelte er sich mit einem beneidenswert anpassungsfähigen Älplercharme durch die Berliner Theaterlandschaft. Jeder wusste das. Und weil die Theaterlandschaft ja so ein ungemein cooles Terrain war, fand man das auch allgemein cool. Mir war es an sich gleichgültig gewesen. Im Glashaus durfte man sich keine Aversionen gegen frühere Liebhaber erlauben und ich hatte mich in letzter Zeit in Toleranz geübt. Allerdings bildeten Wiedervereinigungen bei Stölzli keine Ausnahme. Und damit war dann die Demarkationslinie meiner Geduld doch erreicht. Stölzli war ein Wiedervereiniger, mindestens ein so erfolgreicher Wiedervereiniger wie einst Kohl. Eine Art helvetischer LibidoTreuhänder. Man konnte nur staunen, wie sich bestimmte Szenen wiederholten. In der Kantine tauchten oft genug verflossene Geliebte auf. Diese selbstvergessenen Tussen bedachten den großen Schauspieler vor der Vorstellung mit begehrlichen Blicken und nach vollbrachtem Werk ging es dann bald ab durch die Mitte. Ich presste Daumen und Zeigefinger gegen meine Augäpfel, als könnte ich so die entscheidende Frage zurückhalten: Würde sie mir heute Abend eine solche Szene bereiten? Ab durch die Mitte, für länger als lange? Außer mir war am Bellevue noch jemand zugestiegen. Obwohl der Wagen nahezu unbesetzt war, blieb dieser Mann, der schätzungsweise Mitte vierzig war, an der Tür stehen. Ich hatte ihn bereits aus dem Kurzzeitgedächtnis gestrichen, als er seine lederne Aktentasche akkurat auf der Ablage zwischen uns am Fenster deponierte, sich bäuchlings auf die leere Bank mir gegenüber legte und mit energischen Schwimmbewegungen durch die Luft ruderte. Den mühsam erhobenen Bick auf mich gerichtet, als wolle er sich meiner Aufmerksamkeit vergewissern, kicherte er dazu einladend. Bedauerlich gelbe und große Schneidezähne kamen zum Vorschein. Die geröteten Augen mochten auf das Rudern zurückzuführen sein. Anfeuernd lächelte ich ihm zu und krempelte übermütig die Ärmel hoch, als würde ich gleich zu ihm in den Pool springen. In diesem Moment bekam die graue Leinwand des Alltags einen Riss und ließ stramme Sonnenstrahlen auf das Regierungsviertel fallen. Dann drangen wir auch schon in die Glasröhre des Hauptbahnhofs ein. Bevor der Mann mir gegenüber eine Chance hatte zu reagieren, sprang ich mit drei flotten Hüpfern aus dem Wagen und stand auf dem um diese Zeit mäßig bevölkerten Bahnsteig. Mir war doch nicht nach Trockenschwimmen zumute. Den Rest der Strecke würde ich besser zu Fuß gehen. Ich bin zwar nie jemandem begegnet, der sich dazu bekannt hat, aber es soll Leute geben, die dieses Gebäude aus ästhetischen Gründen fasziniert. Für mich hat der Bahnhof den Reiz einer monströsen Mikrowelle. Außerdem herrscht unter den vermutlich en masse aus kleinen Provinzstädten anreisenden Touristen oft eine angesichts der postmodern ausgestellten Tristesse heroische Champagnerlaune. Da ich des Öfteren hier ein- oder ausstieg, kannte ich meine Wege, um so schnell wie möglich dieser Atmosphäre zu entkommen. Wie ich als Berliner weiß, bin ich damit nicht der Einzige. Doch überkam mich jetzt erneut ein Schwindel, ausgelöst durch einen zärtlichen Gedanken an die Geliebte. Könnte uns der Zufall nicht ausgerechnet hier, auf Europas größtem Turm und Kreuzungsbahnhof, wieder zusammenführen? Es war natürlich sinnlos, aber ich konnte mich nicht davon abhalten, kreuz und quer über die fünf Etagen des Bahnhofs zu streunen, angetrieben von der zehrenden Hoffnung, ihr Gesicht in der Menge auszumachen. ...